Selbsttötung

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Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen L 15 U 149/00 vom 27.04.2004

"...Nach ständiger gefestigter Rechtsprechung des Bundessozialgerichts kann auch eine Selbsttötung, die ihre wesentliche Ursache unmittelbar in der versicherten Tätigkeit findet, einen Arbeitsunfall darstellen (BSG Breithaupt 1963, 768; Urteil vom 18.12.1979 - 2 RU 77/77 -, Beschluss vom 05.02.1980 - 2 BU 31/79 -; Urteil vom 29.02.1984 - 2 RU 35/83 - USK 8455; Urteil vom 30.05.1985 - 2 RU 17/84 - SozR 2200 § 548 Nr. 71; Urteil vom 08.12.1998 - B 2 U 1/98 R - USK 98172, jeweils mit weiteren Nachweisen).

Der Unfallbegriff der gesetzlichen Unfallversicherung umfasst nicht nur körperlich gegenständliche Einwirkungen, sondern auch geistig-seelische Traumata (BSG, USK 98172 m.w.N.). Dabei gilt auch hier die im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung herrschende Kausallehre der wesentlichen Bedingung oder der wesentlich mitwirkenden Teilursache. Sie besagt, dass von den Ursachen im naturwissenschaftlich-philosophischem Sinn, also den Bedingungen, die nicht hinweggedacht werden können, ohne dass der konkrete Erfolg entfiele, diejenigen berücksichtigt werden, die wegen ihrer besonderen qualitativen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich beigetragen haben (BSG USK 8455 m.w.N.).

 Die Mitursächlichkeit psychisch traumatisierender betrieblicher Kausalfaktoren an einem Suizidentschluss ist auch nicht bereits deshalb schlechthin ausgeschlossen, wenn eine zu solchen psychischen Reaktionen neigende Anlage des Versicherten vorliegt, es sei denn, ihr ist eine derart überragende Bedeutung beizumessen, dass sie rechtlich die allein wesentliche Ursache ist und andere Einwirkungen auf die Psyche des Versicherten dadurch als rechtlich unwesentlich in den Hintergrund treten (BSG, Beschluss vom 05.02.1980 - 2 BU 31/79 -; BSG SozR 2200 § 548 Nr. 71 jeweils m.w.N.).

Die Definition des Unfalls enthält als wesentliches Merkmal das der zeitlichen Begrenzung

 Danach erfüllt eine schädigende, auch psychische Einwirkung nur dann den Tatbestand eines Unfalls, wenn sie innerhalb eines verhältnismäßig kurzen Zeitraumes, höchstens innerhalb einer Arbeitsschicht geschehen ist. War die seelische Belastung allenfalls das letzte Glied einer Kette zahlreicher auf einen längeren Zeitraum verteilter Einwirkungen auf die Psyche, so kann sie nicht als rechtlich wesentliche Bedingung für einen Suizidentschluss gewertet werden (BSG SozR 2200 § 548 Nr. 71; BSG USK 98/172)..."

 

Bundessozialgericht  Urteil vom 04.12.2014,   B 2 U 18/13 R:

 

Hinweise wie zu entscheiden wäre, wenn sich Versicherte gerade wegen der Folgen des Versicherungsfalls entschließen, sich das Leben zu nehmen:

 

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"...(Wirk-) Ursachen für den Tod des Versicherten waren mithin der Unfall vom 7.9.2006 und die dabei erlittenen schwersten Verletzungen sowie das Durchtrennen der Magensonde aufgrund des rechtlich geschützten Willens des Verstorbenen, im Wachkoma keinen weiteren Behandlungsmaßnahmen ausgesetzt zu sein, den die Klägerin gemäß § 1901a Abs 1 Satz 2 BGB gehalten war, umzusetzen.

Die reine Rechtsfrage nach der "Wesentlichkeit" der versicherten Verrichtung für den Erfolg ist hier wie in jedem anderen Falle danach zu entscheiden, ob sich durch das versicherte Handeln ein Risiko verwirklicht hat, gegen das der jeweils erfüllte Versicherungstatbestand gerade Schutz gewähren soll (BSG vom 13.11.2012 B 2 U 19/11 R BSGE 112, 177 = SozR 4 2700 § 8 Nr 46, RdNr 37).

Der Senat geht hier davon aus, dass die rechtlich wesentliche Ursache für den Tod des Versicherten in dem Zurücklegen des nach § 8 Abs 2 Nr 1 SGB VII versicherten Weges nach und von dem Ort der Tätigkeit zu erblicken ist.

Der dabei erlittene Unfall hat bei ihm so schwere Verletzungen ausgelöst, dass sein vom LSG bindend festgestellter bereits zuvor bestehender Wunsch, keinen lebensverlängernden Maßnahmen ausgesetzt zu sein, durch den Versicherungsfall maßgebend zum Tragen kam.

Vom Schutzzweck der Beschäftigtenversicherung nach § 2 Abs 1 Nr 1 SGB VII (noch) mitumfasst ist ein Unfallversicherungsschutz für ein Verhalten des Versicherten, das durch Verletzungen bedingt ist, die wie hier unproblematisch im versicherten Schutzbereich der unfallbringenden Tätigkeit erlitten bzw zugefügt wurden.

Die versicherte Tätigkeit in der gesetzlichen Unfallversicherung gemäß § 2 Abs 1 Nr 1 SGB VII iVm § 8 Abs 2 Nr 1 SGB VII umfasst nach dem im 3. Betreuungsrechtsänderungsgesetz vom 29.7.2009 (BGBI I 2286) insbesondere in § 1901a BGB zum Ausdruck gekommenen Willen des Gesetzgebers auch die durch die Autonomie und Menschenwürde (Art 1 GG) des einzelnen Versicherten getragene Entscheidung, keine lebensverlängernden Maßnahmen erdulden zu müssen, wenn aufgrund eines Arbeitsunfalls so schwere Verletzungen vorliegen wie im vorliegenden Fall.

Rechtlich wesentliche und daher vom Schutzzweck des § 2 Abs 1 Nr 1 SGB VII noch umfasste (Wirk-) Ursache für den Tod des Versicherten waren mithin seine Verletzungen aus dem Arbeitsunfall vom 7.9.2006...."