Dritter Ort

Versicherungsschutz in der gesetzlichen Unfallversicherung

Der zweite Senat des Bundessozialgerichts hat im Januar 2020 seine Rechtsprechung zum Wegeunfall vom Dritten Ort geändert. Das sind Wege zum Ort der versicherten Tätigkeit, die von einem anderen Ort als der Wohnung der Versicherten angetreten werden. Anders als früher ist jetzt nicht mehr von Bedeutung, ob die Wegstrecken des üblichen von der Wohnung aus angetretenen Weges und des Wegs vom Dritten Ort in einem angemessenen Verhältnis stehen. Auch nach betriebsdienlichen Motiven für den Aufenthalt am Dritten Ort braucht nicht mehr gefragt zu werden. Entscheidend sei, ob die wesentliche Handlungstendenz für die Zurücklegung des Wegs darin liegt, den Ort der Tätigkeit aufzusuchen, und dass dies in den realen Gegebenheiten objektiv seine Stütze findet. 

Urteilsbegründung hier klicken (sozialgerichtsbarkeit.de)

„Soweit das LSG ausführt, der Kläger habe "mit dem Besuch [bei der Freundin] auch rein eigenwirtschaftliche Interessen" verfolgt, könnte der Weg von M. nach D. zugleich auch dazu gedient haben, den eigenwirtschaftlichen Besuch zu beenden. Dann läge eine sog "gemischte Motivationslage" vor, dh eine objektiv beobachtbare Verrichtung (das Autofahren) mit gespaltener subjektiver Handlungstendenz bzw mit zwei subjektiven Zielen: Die Autofahrt hätte einerseits dazu gedient, den Ort der versicherten Tätigkeit zu erreichen (betriebliche Handlungstendenz), und andererseits, um den Besuch bei der Freundin zu beenden (privatwirtschaftliche Handlungstendenz). Eine solche Verrichtung mit gespaltener Handlungstendenz steht dann im inneren bzw sachlichen Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit, wenn die konkrete Verrichtung hypothetisch auch dann vorgenommen worden wäre, wenn die private Motivation des Handelns entfallen wäre (vgl BSG Urteile vom 26.6.2014 - B 2 U 4/13 R - SozR 4-2700 § 8 Nr 52 RdNr 20 ff; vom 9.11.2010 - B 2 U 14/10 R - SozR 4-2700 § 8 Nr 39 RdNr 24 und vom 12.5.2009 - B 2 U 12/08 R - SozR 4-2700 § 8 Nr 33 RdNr 1; dazu hierzu Spellbrink, WzS 2011, 351). Entscheidend ist also, ob die Verrichtung nach den objektiven Umständen in ihrer konkreten, tatsächlichen Ausgestaltung ihren Grund in der betrieblichen Handlungstendenz findet. Insoweit ist nicht auf Vermutungen über hypothetische Geschehensabläufe außerhalb der konkreten Verrichtung und der objektivierten Handlungstendenzen, sondern nur auf die konkrete Verrichtung selbst abzustellen. Es ist zu fragen, ob die Verrichtung, so wie sie durchgeführt wurde, objektiv die versicherungsbezogene Handlungstendenz erkennen lässt (BSG Urteil vom 26.6.2014 - B 2 U 4/13 R - SozR 4-2700 § 8 Nr 52 RdNr 20). Das ist zu bejahen. Denn der Zeitpunkt der Abreise um 7.10 Uhr und die Autofahrt durch den morgendlichen Berufsverkehr über die A 46 Fahrtrichtung N. war durch das betriebliche Erfordernis bestimmt, die Beschäftigung als Auslieferungsfahrer um 8.00 Uhr am Ort der Tätigkeit pünktlich zu beginnen. Damit wird deutlich, dass nach den objektiven Umständen die Unfallfahrt im sachlichen Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit stand und ihr Gepräge nicht durch die private Motivation des Klägers erhielt, den Besuch bei der Freundin zu beenden. Denkt man das private Motiv (Beendigung des Besuchs) hinweg, so blieb der Kläger am Unfalltag arbeitsrechtlich verpflichtet, die Beschäftigung um 8.00 Uhr morgens in D. aufzunehmen. Diese arbeitsrechtliche Pflicht konnte er nur erfüllen, wenn er gegen 7.10 Uhr mit dem eigenen Pkw in M. aufbrach, um über die A 46 nach D. zu fahren, sodass die konkrete Autofahrt hypothetisch auch dann vorgenommen worden wäre, wenn das eigenwirtschaftliche Interesse entfiel, den Besuch zu beenden....

 

BSG, Urteil vom 30. 01. 2020 – B 2 U 20/18 R

Terminbericht

„... Der Kläger hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf Feststellung des Ereignisses vom ... als Arbeitsunfall, denn er legte zum Zeitpunkt des Unfalles einen versicherten Weg iS des § 8 Abs 2 Nr 1 SGB VII zurück. Der Kläger trat gegen 15 Uhr mit dem Motorrad den direkten Weg von der Wohnung seines Freundes zu seiner Arbeitsstätte an und befuhr zum Unfallzeitpunkt diesen unmittelbaren Weg mit der Handlungstendenz, seine versicherte Tätigkeit als Fahrer dort um 15.30 Uhr aufzunehmen. ... Dem Versicherungsschutz des Klägers während des Zurücklegens des Weges von der Wohnung des Freundes als sogenannten dritten Ort zur Arbeitsstätte stand mithin nicht entgegen, dass diese Wegstrecke mehr als dreimal so lang wie der Weg von der Wohnung des Klägers zu seiner Arbeitsstätte war. Auch ist nicht auf den Zweck des Aufenthalts am dritten Ort abzustellen. Maßgebend ist ausschließlich, dass die Aufenthaltsdauer an dem dritten Ort die Zeitgrenze von zwei Stunden überstieg, was hier der Fall war....“

 

2-Stundengrenze

Bundessozialgericht  

B 2 U 16/14 R  

05.07.2016  


https://sozialgerichtsbarkeit.de

 

"...Der Senat hält an seiner Rechtsprechung fest, dass ein Ort erst dann zu einem sog dritten Ort wird, von dem aus ein versicherter Weg zur Arbeitsstätte angetreten werden kann, wenn der Versicherte sich dort zwei Stunden oder länger aufhält.

Voraussetzung für den Versicherungsschutz auf einem Weg von einem sog dritten Ort zur Arbeitsstätte ist, dass die Dauer des dortigen Aufenthalts so erheblich ist, dass der vorangegangene Weg zu diesem Ort eine selbstständige Bedeutung erlangt und deshalb nicht mehr in einem rechtlich erheblichen Zusammenhang mit der Aufnahme der Arbeit an der Arbeitsstätte steht.

Nachdem zunächst hierfür keine einheitliche Zeitgrenze bestand, hat der Senat seit seiner Entscheidung vom 5.5.1998 ... auf eine Aufenthaltsdauer an dem dritten Ort von zwei Stunden und mehr abgestellt.

Er hat damit der in der Literatur geübten Kritik (...) an den zuvor bestehenden unterschiedlichen zeitlichen Grenzen für den Wegfall des Versicherungsschutzes bei einer Unterbrechung des direkten Weges zur Arbeitsstätte einerseits und dem Versicherungsschutz auf einem Weg nach und von einem sog dritten Ort andererseits Rechnung getragen. ...